Brief 91 - Vergebung

Der abschließende Text aus dem vergangenen Brief machte auf fast schon bedrohliche Weise deutlich, welche geradezu zerstörerische Wirkung Gedanken wie Wut, Hass, Eifersucht oder Hohn haben. Aber sie sind - wie wir festgestellt haben - eben auch ein Teil von uns. Ein Teil, der durch unsere Erfahrungen, unsere Lebensgeschichte und wahrscheinlich sogar diejenige von Generationen zuvor geprägt ist.

Dieser Aspekt hat durchaus das Potential, Dich resigniert denken zu lassen, dass Du aus diesen Mustern nie wieder herausfinden wirst. Das sehe ich anders! Sicher, früh erfahrene Defizite und Verletzungen benötigen Zeit, um zu heilen. Aber diese Zeit hast Du mit Deiner Lebenszeit ja auch bekommen. Außerdem steckt gerade in diesen „echten“ Lebensthemen das größte Entwicklungspotential.

Ein wichtiger Schritt, um dieses Potential zu nutzen, ist das Annehmen derjenigen Gedanken und damit verbundenen Gefühle, die Du allein schon wegen ihrer zerstörerischen Wirkung lieber verdrängen und von Dir weisen würdest. Ein anderer, sehr machtvoller, ist die Vergebung.

 

Der 1945 geborene, dem Buddhismus zugehörige Meditationslehrer Jack Kornfield schreibt dazu:

 

Das Mitgefühl mit uns selbst schenkt uns das Vermögen, die Verurteilung in Vergebung zu verwandeln, den Hass in Freundschaft und die Furcht in Respekt vor allen Lebewesen.

 

Keine leichte Aufgabe! Aber das am Anfang des Satzes stehende Mitgefühl mit Dir selbst ist schon mal der erste Schritt zur Auflösung.

 

Jack Kornfield liefert noch eine weitere Hilfestellung zur Vergebung von Leiden, welches Dir durch das Verhalten von Menschen zugefügt wurde:

 

Vergebung bedeutet nicht, das Verhalten eines Menschen, das Leiden verursacht hat, zu entschuldigen.

Vergeben bedeutet, dass wir jemanden nicht aus unserem Herzen verbannen.

Jeder von uns hat schon Fehler gemacht, und wir alle haben immer wieder Leiden verursacht. Es gibt keine Ausnahme.

 

Dazu möchte ich noch ergänzen, dass niemand zerstörerisches Verhalten sich selbst und anderen gegenüber wählt. Wenn Du anderen ihr Verhalten übel nimmst, gehst Du davon aus, dass sie die Wahl hatten, dass sie anders hätten handeln können. Aber das ist eine Illusion. Solange der Verstand mit seinen konditionierten Mustern das Leben beherrscht, hat man keine Wahl!

Wenn Du das erkennst, kann sich Dein Groll auflösen und - im besten Fall - in Mitgefühl verwandeln.

Du hast die Wahl…