Brief 89 - Kultiviere die Introvertiertheit

Du bist einfach da. Weil das reicht! Weil alles, was darüber hinausgeht, eigentlich nur Unterhaltungsprogramm ist. Aber auch aus dem besten Unterhaltungsprogramm muss man mal kurz aussteigen, um sich selbst nicht im Geschehen zu verlieren.

Es ist ein Ausstieg aus den ausschließlich sinnlichen Wahrnehmungen, die - wie wir wissen - alles andere als die Wirklichkeit darstellen.

 

Falls Dir diese Zeilen bekannt vorkommen sollten: Es ist der Schluss meines letzten Briefes. Er beinhaltet, dass aus Deinen sinnlichen Wahrnehmungen, dem was Du hörst, siehst, fühlst, riechst oder schmeckst, kein Anspruch auf eine Wirklichkeit abgeleitet werden kann. Das mag erstmal irritierend klingen. Aber schnell wird klar: Was Du mit Deinen Sinnen als angenehm empfindest, kann für Dein Gegenüber höchst unangenehm sein. Das zeigt sich alltäglich in den so grundverschiedenen Geschmäckern, ob es nun um Musik, Kunst, Berührung, Geruch oder eben Geschmack geht. Und das gilt natürlich nicht nur für Deine fünf Sinnesorgane, sondern für Dein ganzes Fühlen: Ob Du nun etwas als sicher oder bedrohlich, gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht, richtig oder falsch empfindest: Immer ist es DEINE individuelle Empfindung - DEINE Wirklichkeit, die von Deinen Sichtweisen und Prägungen abhängig ist. Damit haben wir uns bereits auseinandergesetzt.

 

Daher ist es so hilfreich, immer wieder aus den sinnlichen Wahrnehmungen, Deinen Gedanken und Gefühlen auszusteigen. Das Unterhaltungsprogramm zu verlassen und in die Wirklichkeit Deines Daseins im Hier und Jetzt einzutauchen. Und wenn es nur für die im letzen Brief beschriebenen wenigen Atemzüge ist.

 

Paul Debes (1906-2004), einer der Pioniere bei der Verbreitung des Buddhismus in Deutschland, erklärt es so:

 

Wer sich fesseln lässt von dem, was außen erscheint, so wie ein Theaterbesucher sich an den Anblick der Bühne oder des Films verliert, der ertrinkt in der Ausschließlichkeit der durch die sinnliche Wahrnehmung entworfenen äußeren Welt wie der Theaterbesucher in der Dramatik des Spielstücks: Das ist die Extrovertiertheit. Wer aber, nach der Herkunft und den Bedingungen der Erlebnisse fragend, die inneren Vorgänge feststellt, beobachtet, der bleibt in gleichem Maße unbehelligt von Wirbel und Dramatik der äußeren Vorgänge. Das ist der Anfang der Introvertiertheit.

 

Bleib also in Verbindung mit Dir selbst, damit Du Dich nicht in der Welt verlierst. Das ist die einzig wahre Auszeit! Womit wir wieder beim Thema des letzen Briefes angekommen sind: Um neue Kraft zu schöpfen und den Kopf frei zu bekommen, brauchst Du keine räumliche Distanz zu Deinem Alltag, sondern die tiefe Verbindung zu Dir selbst und Deinem Dasein.

Mit dieser Verbindung kannst Du Deine äußerlichen Auszeiten einfach genießen - als besondere Momente im „Unterhaltungsprogramm“ Deines Lebens. So wie ich es aktuell gerade in den Schweizer Bergen tue. Anstatt von diesen Auszeiten etwas zu erwarten, was sie weder leisten können noch brauchen.

 

Darüber hinaus bildet diese tiefe Verbindung zu Dir selbst auch den Rückzugsraum aus den täglichen belastenden Nachrichten. Und diese „Auszeit“ - so scheint es mir - brauchen wir dieser Tage noch dringender als jeden Urlaub.