Brief 83 - Mehr Geschwisterlichkeit, liebe Brüder und Schwestern!

Wir als Weltverbesserer! Karin, von Beginn an Leserin meiner Briefe, schreibt gestern dazu: Ich möchte dabei sein! Und sie weiß auch schon wie. Durch mehr „Geschwisterlichkeit“: Ich möchte über meine persönliche engere Umgebung hinaus mein Gefühl und Wissen von Geschwisterlichkeit ausdehnen auf Menschen, bei denen ich bisher noch nie so empfunden und gedacht habe. Das kann nur in meiner Vorstellung, aber auch in konkreten Begegnungen sein.

 

Geschwisterlichkeit ist kein alltäglicher Begriff. So markiert mein Rechtschreibprogramm das Wort mit einer roten Wellenlinie als unbekannt. Dabei müsste es - als geschlechtsübergreifende Form der Brüderlichkeit - doch eigentlich hoch im Kurs sein. Immerhin kann Wikipedia mit der Brüderlichkeit etwas anfangen und definiert sie als „das tatsächliche oder angestrebte soziale oder solidarische Verhalten einer Gruppe oder Gemeinschaft, das nicht auf Verwandtschaft oder Heirat gründet, sondern auf einem freiwilligen Zusammenschluss von Personen". Und ich dachte immer, Heiraten sei auch freiwillig...

 

Der Gedanke der Brüderlichkeit stammt aus der Philosophie der Stoa (ab 300 v. Chr.) und aus dem Judentum, wurde aber auch ins Christentum übernommen. Hintergrund ist die gemeinsame Abstammung von einem Vater, dem Schöpfer oder der Schöpferin.

Ich denke bei diesem Begriff unweigerlich an Franz von Assisi, der alle Geschöpfe und selbst Sonne, Mond und Sterne sowie Feuer, Wasser, Luft und Mutter Erde als Geschwister wahrgenommen hat. Das passt zu meinem Bild unseres Einsseins mit der Schöpfung.

 

Diese Geschwisterlichkeit - wie Karin es formuliert - immer mehr auszudehnen auf das, was mir bislang als zu entfernt galt, finde ich ein wundervolles Vorhaben für eine bessere Welt! Und angesichts der Tatsache, dass Du und die ganze Schöpfung physikalisch betrachtet annähernd zu 100% aus derselben Energie besteht und die verbleibende Materie aus dem gleichen Sternenstaub stammt, auch kein weither gegriffener Gedanke.

 

Etwas immer mehr auszudehnen ist ein Prozess. Es verlangt nicht, dass Du gleich das Ziel erreichst und in jedem Mitmenschen oder in jeder Kreatur Schwester oder Bruder erkennst. Es ist ein Weg, der mit jedem neuen Tag die Chance bietet, einen Schritt weiter zu kommen. Und mit jedem Schritt weiter wirst Du offener, neugieriger, flexibler, gelassener, mutiger, lichter und freier. Du hinterfragst alte Glaubenssätze und Überzeugungen und kannst Dich immer mehr von Deinem Be- und Verurteilen lösen. Du überwindest Grenzen und schaffst Verbindungen. Vielleicht, wie Karin schreibt, erst in Deiner Vorstellung und dann auch in der konkreten Begegnung.

 

Es ist ein Weg hin zu der spätmittelalterlichen Empfehlung von Meister Eckhart:

 

Du sollst alle Menschen gleich wie Dich lieben und gleich achten und halten.

Was einem andern geschieht, das soll für Dich so sein, als ob es Dir geschehe.