Brief 62 - Das kleine Große

Vor einer Woche ging es um das ganz Große, das, an dem man nicht vorbeikommt, und das deshalb schon mal für Unbehagen sorgt. Wie angekündigt, soll es heute um das Klitzekleine gehen, das Unscheinbare, was man meist übersieht:

Die Spitzen der Krokusse, die überall aus dem Boden sprießen. Die Abermillionen an Kleinstlebewesen, die das Herbstlaub eines einzigen Baumes zum Dünger für den Frühling umwandeln. Der kleine Käfer, der in der ersten Frühlingssonne auf Deiner Jacke landet. 

 

Wenn Du diesem Kleinen Deine Aufmerksamkeit schenkst, stellst Du verblüffende Tatsachen fest:

 

Klein ist nicht gleich schwach!

Bestimmt hast Du auch schon die zart wirkenden Triebe von Pflanzen am Wegesrand gesehen, welche auf ihrem Weg dem Licht entgegen die Asphaltdecke durchdringen. Oder die Ameisen, unsere ständigen Begleiter: Eine Ameise kann das Hundertfache ihres eigenen Körpergewichts tragen. Und wenn ein paar Ameisen zusammenkommen - was ja eigentlich immer der Fall ist - dann können die gerade mal zehn Milligramm leichten Tiere bis zu fünfzig Gramm schwere Lasten wuchten. Das entspricht dem Fünftausendfachen ihres Körpergewichts!

 

Klein ist auch nicht mit mutlos gleichzusetzen!

Vielmehr krabbelt, kriecht und fliegt eine schier unglaubliche Vielfalt an Lebewesen durch die ihnen völlig unbekannte Landschaft, immer mit der latenten Gefahr im Nacken, gleich zertreten oder gefressen zu werden. Und ebensoviele treiben in den riesigen Weltmeeren und in den vom Sturm aufgewühlten Wellen an den Küsten. Wieder andere trotzen zwischen den schmutzigen Bordsteinen mit zarten Blüten dem Straßenverkehr.

 

Klein bedeutet auch nicht, wirkungslos zu sein!

Die eingangs beschriebenen ersten Spitzen der Krokusse sorgen dieser Tage bei den Besuchern in den Hamburger Parks für Entzücken. Aber auch diejenigen, die unser Auge gar nicht mehr erkennen kann, sind extrem wirkungsvoll: So sorgen zum Beispiel die Hefepilze dafür, dass wir am Sonntagmorgen einen luftigen Butterzopf oder abends ein wohlverdientes Feierabendbier genießen dürfen. Und beim Schneefall der letzen Tage konnte eine einzige Schneeflocke mit einem Gewicht von gerade mal vier Milligramm einen Ast abbrechen! Und zwar die Letzte, die darauf gefallen war...

 

So wie im letzten Brief deutlich wurde, dass das Große und Bedrohliche - je mehr wir uns ihm annähern - immer kleiner wird, so wird spätestens an dieser Stelle klar: Das Kleine und Unscheinbare ist bei genauerer Betrachtung ganz groß!

Darum sollten wir ihm mit Achtsamkeit begegnen.

Dazu kommt mir eine Geschichte in den Sinn, die ich vor ein paar Tagen in einem Kalender fand, den mir eine Leserin aus Gran Canaria geschenkt hat. Sie wurde von dem 1865 geborenen Paul Dahlke, einem Wegbereiter des Buddhismus in Deutschland, aufgeschrieben:

 

"In einem indischen Geschäft passierte mir einmal, dass ich, vom Besitzer des Ladens auf ein an meinem Rock sitzendes Tierchen aufmerksam gemacht, dasselbe mit echt westlicher Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit hinwegknipste und es dabei wohl tötete. Gleich darauf merkte ich jedoch, wie auffallend sich das bisher freundliche Wesen des Mannes verändert hatte, und dadurch kam mir zum Bewusstsein, dass der Mann nicht meinetwegen mich auf das Tierchen aufmerksam gemacht hatte, sondern wegen der Tatsache: Dort kriecht ein kleines Lebewesen - also Achtung!

Diese Lektion ist mir außerordentlich dienlich gewesen; nie wieder habe ich sie missachtet."

 

Solltest Du Dich selbst als klein, schwach, mut- und wirkungslos empfinden, so versuche doch ebenfalls, genauer hinzuschauen. Ich bin mir ganz sicher, dass Du auch echte Größe und Stärke findest, und dass Dein Wirken auch mutig und wirkungsvoll sein kann.

 

Und genauso wie das Unscheinbare sich bei genauerer Betrachtung als unendlich kreativer Ausdruck der Schöpfung entpuppt, wirst Du feststellen, dass auch Du ein einmaliger Ausdruck dieser kreativen Kraft bist!