Brief 61 - Das große Kleine

In meinem heutigen Brief soll es mal um das ganz Große gehen. Ein wahrlich sperriges Thema… Das beginnt schon mit der Frage, was oder wen wir dazu zählen wollen?

Den Papst aus dem letzen Brief oder die Autoritätspersonen Deiner persönlichen Lebenswelt?

Das Dauerthema C…?

Oder die unerledigten Aufgaben und ungelösten Probleme, die Du vor Dir herschiebst?

 

Die großen Dinge sorgen schnell für Unbehagen. Sie sind wie Riesen, die sich uns in den Weg stellen. Zu groß, zu schwer zu erfassen, zu gefährlich!

Im 1960 erschienenen Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" bemerken Jim und Lukas, mitten in der Wüste, am Horizont eine solche riesige Gestalt. Jim ist verängstigt, aber als Lukas sich selber und ihm Mut zuspricht, folgt er ihm mit zitternden Knien. Und dann passiert etwas Überraschendes: Je näher sie der Gestalt kommen, desto kleiner wird sie. Schlussendlich erweist sie sich als ein Mann von ganz normaler Größe. Der Autor Michael Ende beschreibt ihn als friedlichen, hilfsbereiten und einsamen - aber eigentlich geselligen - Menschen, der nichts dafür kann, dass sich andere wegen seiner scheinbaren Größe vor ihm fürchten.

 

Die beiden sind einem sogenannten Scheinriesen begegnet. Diese literarische Figur macht die Neigung des Menschen deutlich, sich über das wahre Wesen oder die Bedeutung von jemandem oder etwas zu täuschen. Davor ist wohl niemand gefeit. Auch ich habe mich im Laufe meines Lebens vor vielen - meiner Ansicht nach mächtigen - Autoritätspersonen gefürchtet und erst im Kontakt mit ihnen ihre menschliche - und nicht selten sogar ihre bedürftige - Seite kennengelernt. Und wiederholt habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein bevorstehendes Projekt als schier unlösbare Aufgabe erschien, und habe es in Folge erstmal vor mir hergeschoben. Aber als ich mich der Sache dann irgendwann beherzt und strukturiert annäherte, war sie unerwartet schnell durchgearbeitet.

Dafür war meinerseits eine aktive Rolle notwendig. Das Entscheidende dabei ist der erste Schritt, der, je nach gefühltem Bedrohungspotential, mehr oder weniger Mut erfordert.

Daneben gibt es aber noch die großen Themen, die ich durch eigenes Tun nur sehr bedingt beeinflussen kann, und denen gegenüber ich mich manchmal als machtlos empfinde. Dafür mag das eingangs erwähnte Thema Corona ein Beispiel sein. Es ist aber gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass sich große und schier unlösbare Herausforderungen im Laufe der Zeit auch ohne unser aktives Zutun als lösbar darstellen. Dann zeigen sich mir plötzlich Wege auf, die ich gehen kann. Ob ich mich nun impfen lasse oder meine Immunabwehr durch Maßnahmen wie gesunde Ernährung, Bewegung oder ein harmonisches Leben stärke - ich gewinne meine Handlungsfähigkeit wieder zurück. Und schon wird das ursprünglich Große und Bedrohliche handhabbar.

 

Wovor auch immer Du Dich gerade fürchtest, was auch immer Du anzupacken scheust: Vielleicht ist es ja nur ein Scheinriese, der bei beherzter Annäherung und etwas Geduld immer kleiner wird.

Vielleicht sogar so klein, dass er im Laufe der Zeit gar nicht mehr auffällt. Aber um diese Wesen geht es erst im nächsten Brief, heute in einer Woche.