Brief 59 - Schluss mit dem Schubladendenken!

Kennst Du das? Du gehst in den Keller oder steigst auf den Dachboden und dann packt Dich der Impuls, mal wieder in den Schubladen dieser Kommode zu stöbern, in die Du gefühlt schon seit Jahrzehnten nicht mehr reingeschaut hast.

Da findet sich manchmal Überraschendes. Zum Beispiel die Unterlagen für die schriftliche Führerscheinprüfung, Prospekte von der ersten Amerikareise oder ein Walkman aus der Jugendzeit. So, jetzt weißt Du um ein paar Schätze, die sich tatsächlich in meiner Kommode im Keller befinden. Mehr verrate ich hier aber nicht…

 

Dafür möchte ich mich noch ein paar anderen Schubladen zuwenden, die meist schon ebenso lange verschlossen geblieben sind wie diejenigen der Kommoden in den hintersten Ecken unserer Abstellräume. Es sind die gedanklichen Schubladen in den entferntesten Ecken unseres Bewusstseins.

Ich schlage vor, wir holen mal zwei davon wieder ans Licht. Zwei, in denen es sich - nach meinem Dafürhalten - aktuell besonders lohnt, genauer nachzuschauen.

 

Auf dem Etikett der einen Schublade steht „Panikmacher“ und auf dem der zweiten „Leugner“.

 

Die erste Schublade will vorsichtig geöffnet werden. Nicht dass mir gleich Karl Lauterbach mit einer düsteren Prophezeiung oder „Mutti" mit ihrem Gerede von einem harten Winter entgegen springt. Oder ein Virologe, der schon wieder eine neue Mutation gefunden hat. Vielleicht auch ein Politiker, der sich noch nicht über die Wichtigkeit der Impfung für alle geäußert hat. Dem Etikett entsprechend könnte in dieser Schublade auch einer jener Zeitgenossen stecken, die selbst auf dem Fahrrad ihre ffp2-Maske tragen und für stärkere Kontaktbeschränkungen plädieren. Schließlich gilt es, einen Kampf zu gewinnen.

Was doch so ein Etikett auf einer Schublade alles erwarten lässt…

Also vorsichtig öffnen. Und… Es springt mir jedenfalls keiner entgegen! Dafür ist da jemand, der seinen Optimismus durch zu viele Enttäuschungen - schon lange bevor irgendjemand von einer Pandemie sprach - verloren hat. Und diejenige, die sich bereits vor den Kontaktbeschränkungen einsam gefühlt hat und jetzt einfach nur fürchtet, im Falle einer Erkrankung allein zu sein. Einer, dem die Angst seit seiner frühkindlichen traumatischen Erfahrung in den Knochen sitzt. Und ganz hinten in der Schublade finde ich noch die Gruppe derer, die ob all der widersprüchlichen Nachrichten gar nicht mehr wissen, wem und was sie glauben sollen und darum lieber vorsichtig sind. Und dann erzählt mir einer, der sich als Sprecher der Menschen aus dieser Schublade ausgibt, dass ihm und seinen Begleitern eigentlich die unbewusste Angst vor dem Tod im Nacken sitze.

 

Bei der Schublade mit dem Etikett „Leugner“ wird es bestimmt anders sein! Da werde ich mich besonders in Acht nehmen müssen. Da erwartet mich wahrscheinlich ein wüster Mob aus rücksichtslosen Egoisten, gedankenlosen Impfverweigerern, Partygängern und üblem rechtem Gedankengut. Bestimmt werden sie gar nicht wahrnehmen, dass ich die Schublade öffne, weil sie gerade auf dunklen Telegram-Kanälen ihre wilden Theorien posten.

Nach dem ersten Blick in diese Schublade muss ich mich nochmals vergewissern, ob ich mich vielleicht vertan habe! Denn erstmal erkenne ich da Leute wie Dich und mich. Menschen, die sich Gedanken machen um den sozialen Zusammenhalt und angesichts der Anordnungen unter Umgehung der üblichen Instanzen sogar um die Demokratie. Einer meint, man sollte den Menschen da draußen doch auch mal Empfehlungen an die Hand geben, wie sie ihre Immunabwehr stärken könnten. Mir kommen dazu gleich viele Dinge in den Sinn: Gesunde Ernährung, Bewegung in der Natur, eine ausgeglichene Work-Life-Balance, Jin Shin Jyutsu… Eine Frau hat sich über viele Jahre mit dem Thema Impfungen befasst und erklärt mir, warum sie für sich entschieden hat, vorerst auf eine Impfung zu verzichten. Jemand erläutert mir anhand der offiziellen deutschen Statistik, dass in den vergangenen 12 Monaten weder eine Übersterblichkeit zu verzeichnen war und tagesaktuell nur für 15% aller Patienten auf Intensivstationen eine Covid-19-Diagnose gestellt wurde. In der rechten Ecke der Schublade finde ich aber auch ein paar Ewiggestrige, die versuchen, mit ihrem Gedankengut die kritischen Nachfragen der anderen zu unterwandern.

 

Lass uns gemeinsam Etiketten entfernen. Lass uns nie wieder Menschen pauschal in Schubladen stecken. Lass uns miteinander in Kontakt kommen oder bleiben. Wenn es persönlich gerade nicht möglich ist, dann ruf an oder schreib. Lass uns einander wieder zuhören und unsere Sorgen miteinander teilen.

Lass uns aufeinander zugehen, die Verletzlichen auf die Besorgten und umgekehrt. Uns eint mehr als die Angst, sei sie vor Covid-19 oder vor den totalitären Reaktionen darauf.

Uns eint die Menschlichkeit.