Brief 40 - Die Tagundnachtgleiche

Am Dienstag ist es wieder soweit: Wir dürfen das zweite Äquinoktium des Jahres feiern!

Wie, Du weißt nicht, worum es geht???

Dabei wird dieser Tag in der Menschheitsgeschichte seit Ewigkeiten gefeiert! So errichteten beispielsweise die Maya die Stufenpyramide El Castillo im mexikanischen Chichén Itzá. Deren Architektur ist so konzipiert, dass das Sonnenlicht zum Äquinoktium die Treppenstufen der Nordseite zu Mittag exakt streift, während die Bereiche neben der Treppe komplett im Schatten bleiben.

 

Wenn es Dir jetzt dämmert, dann bist Du auf dem richtigen Weg… Denn am Dienstag geht es quasi um den Zeitpunkt der Dämmerung. Wir erreichen die Tagundnachtgleiche!

Ich muss gestehen, dass ich den Fachbegriff für diesen Tag ebensowenig kannte, noch war mir klar, dass man das Wort „Tagundnachtgleiche“ grammatikalisch korrekt zusammen schreibt.

Soviel zu meinem Bewusstsein für diesen Tag.

 

Die Urvölker hatten offenbar deutlich mehr Bewusstsein für die beiden Kalendertage des Jahres, an denen der lichte Tag und die Nacht gleich lang sind. Hinzu kommt, dass die Sonne an diesem Tag auf der ganzen Welt fast genau im Osten auf- und im Westen untergeht. Und natürlich markiert der kommende Dienstag auch den astronomisch definierten Herbstbeginn.

 

Die beiden Tagundnachtgleichen im Jahreskreis sind Schwellenfeste. Wir schauen auf den Sommer hinter uns und die dunkle Jahreszeit, die vor uns liegt.

Früher hatten die Menschen ein Gefühl für die Wichtigkeit des ersten Schrittes. Im übertragenen Sinne dafür, mit dem richtigen Fuß über die Schwelle zu treten. Mit dem falschen Fuß aufzustehen oder über die Schwelle zu gehen, konnte ein schlechtes Omen sein. „Falscher“ und „richtiger“ Fuß beziehen sich dabei auf die innere Haltung, mit der man hinübergeht.

 

Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche fällt uns der Übergang meist leicht. Im Herbst ist es oft anders. Und das trotz der großen Erntedankfeste, welche diesen Übergang begleiten. Bei vielen Menschen schleichen sich mulmige Gefühle und Angst ein. Angst vor der dunklen Zeit, Angst vor Verlust, Angst vor Schmerz und Tod. Es ist die Angst vor den eigenen tiefen Gefühlen. Diese Gefühle sind es, welche diese Zeit tiefer und schwerer machen.

 

Nicht von ungefähr fällt die Herbst-Tagundnachtgleiche mit dem Beginn des Sternzeichens Waage zusammen. Sie gilt mit ihrem tiefen Verständnis als „Seelenwaage“ an der Schwelle zum Totenreich. Eine Rolle, die in der katholischen Kirche Erzengel Michael übernommen hat, der oft mit Schwert und Waage als Geleiter der Toten dargestellt wird. Mit der „Seelenwaage“ soll er gemäß dem Volksglauben zwischen Gut und Böse abwägen.

Das ist ein anderes Bild der Waage, als jenes, welches landläufig gerne dargestellt wird. Darin geht es meist ausschließlich um Harmonie, Schönheit und Ausgeglichenheit. Aber der buchstäblich „tiefere" Sinn eines Gleichgewichts, das zu Harmonie und Ausgeglichenheit führt, ist ein anderer.

Es geht um das Gleichgewicht selbst. Wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten, entstehen die Probleme, und nicht durch die Dunkelheit.

Ein wahrhaft besonderer Mensch hat Tiefe, und diese Tiefe umfasst auch die Dunkelheit.

 

Früher feierte man zu dieser Zeit Jahreskreisfeste wie Kirchweih oder Kirmes, das Michaeli-Fest und Lugnasad. Feste, die mit Sterben und Tod, der größten Angst des Menschen, zu tun haben.

Diese und weitere Feste der Antike, der Griechen, des Orients, aber auch der Kelten und Germanen dienten dazu, Mut zu machen für den Eintritt in die Nacht als Symbol für Tod und Wiedergeburt.

Dabei ist das Sterben nur der finale Aspekt. Es geht auch um Abschied und Neuanfang in diesem, Deinem Leben! Abschied und Neuanfang von was auch immer.

Immer geht es um den Umgang mit dem Schmerz und das Loslassen, aber auch um die Hoffnung auf Verwandlung und ein neues Leben.

 

Der Herbst ist die Zeit für die Feier der Verwandlung. Du gehst reich beschenkt und mit tiefem Vertrauen in die Zeit der Nacht. Denn in Dir brennt ein Licht als Keim für das Neue.