Brief 39 - Reif für das Einssein mit der Schöpfung

Samstag mit einer Pilgergruppe in der Lüneburger Heide: Wir bleiben an einem Feld stehen, aus dem die Stile des Weges von lautem Dröhnen unterbrochen wird. Es kommt von riesigen Erntemaschinen, die Kartoffeln aus dem Boden ziehen, vom Kraut trennen und einsammeln. Technisch interessierte Zeitgenossen (zu denen ich mich auch zähle) bleiben fasziniert stehen. Der Rest der Gruppe zwangsläufig auch, denn besser hätte die Szenerie nicht zum Thema der Tour passen können: Es ging - dem Spätsommer entsprechend - um das Thema Reife.

 

Die Kartoffeln waren offenbar reif! Und nicht nur die, auch die Brombeeren neben dem Feld, die Pilze im darauffolgenden Waldstück, die Eicheln, die aus den Baumkronen auf uns niederfielen und die Äpfel in den Gärten. Aber uns ging es um eine andere Reife: Unsere eigene.

Irgendwie reihen sich im Leben ja biografische Phasen der Reife aneinander. Schritt für Schritt reifen wir körperlich und geistig zu der Person heran, die wir gerade sind. Manchmal geschieht dies leise und kaum wahrnehmbar, manchmal laut und spektakulär. Ob wir nun vom Kriechen in den aufrechten Gang wechseln, vom Kind zum Jugendlichen oder vom Reagierenden zum Agierenden werden, immer ist es ein Lebensabschnitt, der seinen Abschluss findet. Immer werden wir reif. Reif für etwas Neues. Manchmal auch für die Insel...

 

All diese Abschnitte sind wichtig, der eine baut auf dem anderen auf. Sie bedingen einander, sie markieren evolutionäre Stufen, die wir alle auf unsere eigene Art und Weise zu erklimmen haben.

Mit meiner Gruppe wollte ich hoch hinaus. Höher als die meisten unserer Zeitgenossen. Und so stellten wir uns der Frage, wann wir Reif für die Erfahrung des Einsseins mit der Schöpfung sind?

 

Für mich ist diese Frage sowas wie die Kür der Abfolge aller Schritte der Reife. Wenn Du Dir diese Frage stellst, dann möchtest Du über das rein Weltliche hinausgehen. Dann hörst Du den Lockruf der Quelle, aus der Du gekommen bist. Dann schließt Du quasi einen Kreis. Den Kreis der Schöpfung.

 

Das bedeutet nicht, dass Du abheben oder den weltlichen Erscheinungen fortan keine Beachtung mehr schenken würdest. Aber die Welt hat ihre Macht über Dich verloren, sie kann Dich mit ihrer Dynamik nicht mehr erschüttern. Du bist endlich frei!

 

Der buddhistische Mönch und Molekularbiologe Matthieu Ricard schreibt dazu:

 

Wenn man einen Zustand der inneren Freiheit von den Emotionen erreicht, so heißt das nicht, dass man apathisch oder gefühllos wird oder die Welt deswegen ihre Farbigkeit verliert. Statt ständig zum Spielball negativer Gedanken, Launen und unseres Temperaments zu werden, sind wir dann einfach zu Meistern geworden.

 

Wenn Du reif bist, wirst Du zum Meister! Denke jetzt nicht, das sei etwas für einen ausgewählten Kreis besonderer Menschen. Wie jeder von uns bekommst auch Du jeden Tag 24 Stunden, um Dich zu entscheiden, der universellen Schöpferkraft zu vertrauen und Dich von ihr tragen zu lassen.

Dann kann zur körperlichen und geistigen Reife diejenige der Seele hinzukommen.

 

Am Ziel unserer Pilgertour im Heidedorf Undeloh erwartete uns ein mit rotbackigen Äpfeln übervoller Baum. Da kam mir der Gedanke, dass ein Mensch, der mit seiner Quelle in Verbindung steht, etwas von einem solchen Baum hat. Er hat aus dem, was die Welt ihm bietet und der Kraft der Sonne reife Früchte gebildet, die er abgibt. Er hat im Überfluss und schenkt dem, der kommt und bereit ist, anzunehmen. Seine Frucht ist das Ergebnis seines Wachstums auf der Erde und der Energie aus der Quelle.

 

Lass es uns ihm gleichtun! Lass uns aufblühen und von dem leben, was Himmel und Erde uns schenken. Daraus werden wir ganz bestimmt auch Früchte tragen, die wir gerne abgeben mögen. Und dieses Geben gibt auch unserem Dasein Sinn und Genugtuung.

Es ist das gute Gefühl, von der Liebe getragen zu werden und diese zu verschenken. Das ist Reife!