Brief 232 - Was es ist

Als Erich Fried 1938 vor den Nationalsozialisten aus seiner österreichischen Heimat flieht, ist er 17 Jahre alt. Mit seinen ab 1944 veröffentlichen Versen möchte er erreichen, dass aus der Vergangenheit Lehren gezogen werden.

Trotz der erlebten Gräueltaten an seiner jüdischen Familie ist er ein Menschenfreund geblieben. Er sucht den Dialog mit Andersdenkenden, möchte verstehen und zwischen Menschen und ihren Taten unterscheiden.

In seinem berühmtesten Gedicht „Was es ist“ - es erscheint 1983 - widmet er sich der Liebe und formuliert einen Dialog zwischen ihr und ihren möglichen Widersachern: Vernunft, Berechnung, Angst, Einsicht, Stolz, Vorsicht und Erfahrung. Sie stellen die Liebe in Frage, aber diese lässt sich davon in keinster Weise verunsichern.

Der so entstehende Dialog lässt sich als klassische Auseinandersetzung zwischen Kopf und Herz lesen, als verbaler Ballwechsel zwischen Warnungen vor der Liebe und Vertrauen in sie.

Der Dichter offenbart so die Größe der Liebe, die über den Dingen und für sich steht und die keiner weiteren Erläuterung bedarf.

 

Sie ist, was sie ist.

 

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe

 

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe

 

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

 

Mit diesen Worten möchte ich mich für anderthalb Wochen mit einer Pilgergruppe auf den Schweizer Jakobsweg verabschieden. Während dieser Zeit gibt es ein paar Impressionen sowie eine Pilgerweisheit als wöchentlichen Wegbegleiter.