Brief 215 - Weniger Ich - mehr Glück

Eigentlich wollte ich das Thema Beziehung mit dem letzten Brief abgeschlossen haben. Aber dann geriet mir ein Kalenderblatt mit einem Text in die Hände, der diesen Abschluss erst richtig „rund“ werden lässt. Danke hierfür an Renata, die meine Briefe auf Gran Canaria empfängt.

Im Text des Soziologen Joachim Matthes (1930-2009) wird die von mir thematisierte Beziehung als eine „Einbettung in ein dichtes Gewebe naturhafter und menschlicher Beziehungen“ bezeichnet, der Du Dich als würdig betrachten darfst:

 

Das Lebensverständnis des westlichen Menschen ist vom Gedanken der Selbstverwirklichung des Einzelnen in dieser Welt geprägt. Demgegenüber leben fernöstliche Kulturen aus dem Gedanken der Einbettung des Einzelnen in ein dichtes Gewebe naturhafter und menschlicher Beziehungen.

In dieser Einbettung muss sich der Mensch nicht gegenüber anderen in seiner Unverwechselbarkeit ständig durchsetzen und behaupten. Es obliegt ihm vielmehr, sich seiner Einbettung würdig zu erweisen. Statt auf Selbstverwirklichung ist er auf Selbsterziehung in Rahmen seiner Lebenswelt verwiesen.

 

Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung der unterschiedlichen Sichtweise zwischen den östlichen und den westlichen Kulturen. Darauf verweist auch der indische Philosoph Sarvepalli Radhakrishnan (1888-1975), von 1962-67 Präsident der Republik Indien, wenn er über die Bedeutung der inneren und der äußeren Welt sagt:

 

Die östlichen Kulturen sind nicht so sehr an der Verbesserung der äußeren Verhältnisse interessiert wie daran, aus dieser unvollkommenen Welt durch die Pflege von Zufriedenheit, Geduld und Ausdauer das Beste zu machen.

Während die westlichen Nationen die Freiheit auch um den Preis des Konflikts verlangen, unterwerfen sich die östlichen dem Frieden selbst um den Preis der Knechtschaft. Sie verehren den Menschen mit wenigen Bedürfnissen als das glücklichste Wesen.