Brief 21 - Gelassenheit

Hast Du Dich heute schon aufgeregt? Hand aufs Herz…

Vielleicht gehen Dir die Lockerungen der Einschränkungen Deiner Außenkontakte zu langsam oder zu schnell. Oder du findest das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes lästig und überflüssig. Aber auch dann, wenn Du zu denjenigen gehörst, die sich seit Wochen im Home-Office rumschlagen, deren Kinder immer noch zu Hause rumhängen und die bislang vergeblich auf die Wiedereröffnung ihres Sportclubs warten, ist die Aufregung nachvollziehbar.

Verständlich wäre es ebenfalls, wenn Dir die ganze Berichterstattung um das Corona-Virus inzwischen einfach auf die Nerven geht. Ich hoffe nur, dass  das nicht auf meine Briefe zutrifft, gerade weil der heutige etwas länger ausfällt… 😐 

 

An Stelle des billigen Trostes „Du musst einfach loslassen, wo ist das Problem?“ bekommst Du heute eine Alternative - inklusive Hilfestellung!

 

Was Du brauchst ist Gelassenheit! Die Frage ist nur, woher sie kommen soll?

Ich habe nachgeforscht und erstaunliches festgestellt: Meister Eckhart, er lebte um 1260-1328 und war einer der einflussreichsten Theologen und Philosophen des Spätmittelalters, gilt quasi als „Erfinder“ der Gelassenheit! Das Wort leitet sich her vom mittelhochdeutschen Gelâzenheit, einer Wortschöpfung Meister Eckharts. Es ist einer der zentralen Begriffe der Eckhartschen Mystik.

 

Es liegt ja im Trend, locker, entspannt und „cool“ zu sein bzw. sein zu wollen. Das hat aber höchstens oberflächlich etwas mit der Eckhartschen Mystik zu tun.

Eckhart geht es darum, gelassen zu werden. Das bedeutet für ihn alles, was ich will, auch was ich wissen und haben will, erstmal sein zu lassen! Nicht meine eigenen kurzsichtigen Ziele zu verfolgen, sondern sozusagen das Leben auf mich zukommen zu lassen.

Das ähnelt in gewisser Weise dem Begriff, wie wir heutzutage Gelassenheit verstehen. Also den Druck aus dem alltäglichen Leben zu nehmen. Wir sind ja alle getrieben von irgendwelchen Zwecken, wir müssen dies und jenes erreichen.

Dann gilt es erst mal zu sagen: Stopp, das muss nicht sein! Das ist vielleicht gar nicht das Richtige. Und wenn ich so weitermache, könnte ich das Richtige sogar verfehlen. Also lasse ich das!

 

Für Meister Eckhart war es für das Lassen, das Loslassen, wichtig und hilfreich, sich bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist. Für ihn war es die spirituelle Entwicklung. Materieller Reichtum, das Ich, die eigenen Wünsche, waren ihm nicht so wichtig.

Es geht also um eine Neuformulierung der Werte. Dem was wichtig ist, gilt es, sich zuzuwenden. Von dem was nicht so wichtig ist, gilt es sich zu lösen.

Ob Du nun gläubig bist oder Atheist, diese Lehre von Meister Eckhart ist auch für Dich hilfreich. Indem Du die Dinge des Lebens in die richtige Perspektive bringst, kannst Du gelassen damit umgehen.

 

Mache Dir also bewusst, was Dir wirklich wichtig ist. Dann kannst Du bei den vielen Kleinigkeiten des Alltags gelassener bleiben.

Wenn Du zum Beispiel spirituelle Ideale hast, Dein Einssein mit der Schöpfung entwickeln möchtest - dann mach Dir das bewusst. Und mache Dir bewusst, dass das andere nicht so wirklich wichtig ist.

Also angenommen, Du stehst vor einer wichtigen Entscheidung, dann überlege Dir, was Dir wirklich wichtig ist. Vor diesem Hintergrund überlegst Du Dir, wie Du die Entscheidung treffen kannst.

Und wenn Du im Alltag durch Höhen und Tiefen gehst, kannst Du Dir bewusst machen, dass das vom spirituellen Standpunkt aus vielleicht gar nicht so entscheidend für Dich ist. Es ist nicht so wichtig, ob Du jetzt Erfolg hast. Es ist nicht so wichtig, ob Menschen Dich mögen oder nicht mögen, es ist nicht so wichtig, ob Du jetzt ein großes oder kleineres Auto hast. Wichtig ist Deine spirituelle Entwicklung.

 

Wie bereits erwähnt, sind die Grundsätze zur Gelassenheit, die Meister Eckhart gelehrt hat, auch nicht religiös interpretierbar und im Alltag hilfreich. Indem Du hohe Werte hast, kannst Du bei vielem anderem gelassen bleiben. Indem Du Deine hohen Werte so formulierst, dass sie nicht so leicht in Frage gestellt werden, kannst du gegenüber anderem gelassen bleiben.

Dazu noch ein Beispiel: Deine Partnerschaft und ein liebevoller Umgang ist Dir wichtig. Und jetzt stellst Du fest, Dein Partner ist unordentlich. Ihr habt euch vielleicht darüber geeinigt, dass er seine Socken wegräumt und er tut es trotzdem nicht. Jetzt hängt es davon ab, ob Dir Dein Partner wirklich wichtig ist oder ob Dir Ordnung wichtiger ist. Wenn Du jetzt sagst, die Liebe zu meinem Partner ist mir wichtig, dann hast Du das in die richtige Reihenfolge gesetzt. Und dann stellst Du fest, dass Socken herumliegen, aber dass das nicht so wichtig ist. Du magst jetzt freundlich mit Deinem Partner sprechen und ihn darauf aufmerksam machen. Oder humorvoll etwas sagen, da gibt es viele Möglichkeiten. Aber die Partnerschaft bleibt Dir wichtiger als die Socken. Vor dem Hintergrund, dass Du ein höheres Ziel hast, kannst Du bei vielem Kleinem gelassen bleiben.

 

Meister Eckhart galt als „Lebemeister“. Und seine „Gelâzenheit“ ist eine befreiende Zumutung! Sie bedeutet, die Bilder, die Du Dir von Dir selbst, von den anderen und vom Lauf der Dinge machst, immer wieder zu lassen, damit paradoxerweise eine tiefe Verbindung mit dem Leben bleibt. Er bestärkt Dich, Dich selbst, die anderen und sogar die Schöpferkraft „um Gottes Willen“ zu lassen, damit Du / wir und die Schöpferkraft einander bleiben.

Sein Loslassen ist deshalb kein billiger Trost, es hat vielmehr mit dem Einlassen zu tun. Ein Einlassen auf das Leben, eine Ermutigung, selbst zum „Lebemeister“ zu werden.