Brief 165 - Das kalte Herz

Märchen können uns mit ihrer bildhaften Sprache verborgene Zusammenhänge aufzeigen. So verhält es sich auch mit dem 1827 durch Wilhelm Hauff verfassten Märchen „Das kalte Herz“. Es hilft uns, Eugen Drewermanns Zitat „Die Weinenden sind die Menschen, die anfangen, wirklich zu leben“ zu verstehen.

 

Das Märchen handelt von einem Mann, der so arm wird, dass er nicht mehr zu leben weiss. In seiner Not bietet ihm der „Holländermichel“, der mit dem „Bösen“ in Verbindung gebracht wird, einen Handel an: Er wird reich sein und keine Not mehr leiden, wenn er ihm sein Herz schenkt. Dieses sei ihm mit seinen Gefühlen ohnehin nur hinderlich im Leben.

Durch den Tauschhandel kommt der Mann schnell zu Reichtum. Aber dort, wo sein Herz war, trägt er fortan einen kalten Stein.

 

Was Hauff uns sagen will: Sobald wir aufhören, Gefühle ernst zu nehmen, Mitleid zu entwicklen, Kindheitsträume zu bewahren, sobald wir die Sehnsucht nach einer liebevollen Welt aufgeben, wird die Welt kalt und hart. Aber Du wirst reich…

 

Es ist die Welt, in der wir leben! Rational, erfolgreich, zielstrebig, gewinnorientiert. So handelt man „verantwortlich“…

Aber diese Welt ist die Hölle! Du hast Dein Herz verloren, es aus lauter Not verschenkt - man mag es sogar verstehen.

 

Wenn das die Weltanschauung wird, verlieren wir uns selbst. Dann erfrieren unsere Tränen zu Masken aus Eis.

 

Wenn wir begreifen, dass das unsere ganz normale Welt ist, aus der wir in allem, was wir uns vormachen, erlösungsbedürftig sind, kann alles von Grund auf heilen: Von Qual in Glück, von Mitleidlosigkeit in Barmherzigkeit, von Armut in wahren Reichtum, von Lüge in Ehrlichkeit, von Gewalt in Güte, von Angst in Vertrauen, von Unmenschlichkeit in Menschlichkeit.

 

Ja, es sind die Weinenden, die anfangen, wirklich zu leben. Mit einem warmen Herz.