Brief 144 - In-dividuum, un-teilbar

Auch wenn wir - wie im letzten Brief thematisiert - der Stimme unseres Herzens lauschend unser Original wiederfinden können, so haben die Erfahrungen und Eindrücke des Lebens in unserem weltlichen Dasein in den allermeisten Fällen doch seelische und körperliche Narben hinterlassen. Auf dieser Ebene sind wir längst nicht mehr vollkommen.

 

In Japan gibt es ein Konzept, welches gerade dem Unvollkommenen, Vergänglichen und Fehlerhaften Schönheit und Bedeutung beimisst: Wabi-Sabi. Seine Philosophie wird im Kintsugi, einer uralten japanischen Technik, auf besondere Weise sichtbar.

Dabei werden zerbrochene Gegenstände aus Keramik oder Porzellan mit Urushi-Lack repariert. In diesen aus Harz bestehenden Kleber wird neben Silber und Platin vor allem pulverisiertes Gold eingearbeitet, wodurch der Makel deutlich hervortritt. Die goldenen Linien, die wie Adern durch die reparierten Gegenstände verlaufen, werden dadurch zur Besonderheit.

Unsere persönlichen Lebenserfahrungen haben unser Original überdeckt und uns oft genug leiden lassen. Aber gleichzeitig sind es die Narben und Brüche, die uns zu einem kostbaren Individuum machen.

 

Und der Begriff „Individuum“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Unteilbares“.

Fast scheint es, als ob die Linien unserer Narben und Brüche uns auf den Weg zu unserem Individuum - dem Unteilbaren, das niemals zerbrechen kann - führen würden.

 

Mögen sie Dir zu goldenen Linien werden, die Dir den Weg zu Deinem makellosen Ursprung - zu Deinem Original - weisen.