Brief 131 - …alles ist Gnade, fürchte dich nicht

Der Titel lässt es bereits erahnen: Heute geht es um die Einheit innerhalb jener Polarität, mit der wir uns zeitlebens konfrontiert sehen.

 

Der baltische Haussegen drückte diese Einheit in einfachen Worten aus:

 

Wechselnde Pfade, Schatten und Licht:

Alles ist Gnade, fürchte Dich nicht.

 

Zum besseren Verständnis dieses gnadenvoll vereinigenden Aspektes lohnt es sich, die beiden Begriffe Polarität und Gnade aus philosophischer Sicht etwas genauer zu betrachten:

 

Mit Polarität werden keine unvereinbaren Gegensätze, sondern das komplementäre Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen beschrieben.

Komplementär bedeutet, dass die beiden widersprüchlichen, einander ausschließenden Beschreibungen zum Verständnis des Sachverhaltes in ihrer wechselseitigen Ergänzung geradezu notwendig sind.

Es geht also um das klassische „Sowohl-als-auch“: Unser Leben besteht aus Schatten und Licht.

Den beiden Gegensätzlichkeiten der Polarität kommt per Definition keine Wertung zu. Sie sind weder gut noch schlecht, sondern einfach die beiden gegenüberliegenden Enden derselben Sache, die untrennbar miteinander verbunden sind. Der Tag lässt sich nur im Kontrast zur Nacht definieren, das Licht nur durch die Dunkelheit.

In den beiden gegensätzlichen Polen findet man die Einheit. Insbesondere im Daoismus wird diese Einheit mit Yin und Yang besonders betont.

 

Gnade wiederum ist ein moralischer Wert. Neben dem Verzicht oder der Abmilderung einer Strafe wird darunter allgemein das Wohlwollen eines Höheren - das kann auch die universale Schöpferkraft sein - gegenüber eines Niedrigeren verstanden.

 

Diese Definitionen können uns helfen, mit den Erschütterungen durch die im letzen Brief thematisierten Widersprüche nicht nur klarzukommen, sondern sie als Notwendigkeit zu begreifen, um das Licht und das Gute zu erkennen. 

 

Das sah schon der griechische Philosoph Demokrit (459 v.Chr.) so, indem er diese Erschütterungen als Läuterung auf dem Weg zur Wahrheit bezeichnet:

 

Die heiligen Dinge werden nur heiligen Menschen offenbar,

den anderen sind sie versagt, solange sie nicht geläutert sind

durch die Erschütterungen, die von dem Verständnis der Wahrheit ausgehen.

 

Alles ist Gnade, fürchte Dich nicht!