Brief 130 - Wechselnde Pfade, Schatten und Licht...

Sich nicht mit intellektuellen oder frommen Vorstellungen über die Schöpferkraft zufrieden zu geben, kann auch bedeuten, seine Komfortzone verlassen zu müssen. Das gilt heute wie vor 400 Jahren zu Zeiten Jakob Böhmes. Durch sein Suchen nach der Wahrheit und Hinterfragen dessen, was er vorfand, stieß er auf Widersprüche, die ihn in seinen Grundfesten erschütterten und beinahe in eine tiefe Melancholie stürzen ließen. Zusätzlich haben ihm seine Schriften Anfeindungen und Glaubensverhöre von Seiten der Kirche eingebracht, denen er sich noch auf dem Sterbebett stellen musste.

Im letzten Brief klang etwas vom Ringen des „ersten deutschen Philosophen“, wie Hegel ihn nannte, durch.

 

Auch ich bin auf der Suche nach einem Bild der Schöpferkraft, das mich ihrem Wesen möglichst nahe bringt. Diese Suche ist die Triebkraft meiner Briefe und Pilgertouren. Auf dieser Suche ergeht es mir nicht viel anders als dem Schuster aus Görlitz oder Dir, wenn Du Dich auf den Weg machst; mit Augen, Ohren und Herz offen für das, was auf Dich zukommt. Zumindest was die Widersprüche betrifft, mit denen Du Dich schon bald konfrontiert siehst: 

Auch mir begegnen in der Natur nicht nur deren Schönheit, sondern auch ihre manchmal zerstörend wirkende Urgewalt und das erbarmungslose Gesetz von Fressen und gefressen werden.

Auch ich erlebe, wie freundliche und achtsame Menschen aus meinem Umfeld gleichzeitig durch gedankenloses Verhalten das Klima weiter aufheizen und die begrenzten Ressourcen dieses Planeten plündern.

Auch ich muss zusehen, wie Menschen, die den Frieden propagieren, plötzlich nach Kriegsgerät rufen und kritische Stimmen dazu politisch in die Ecke drängen.

Auch mir entgeht nicht, dass gelebte Toleranz und Meinungsfreiheit - von Angst getrieben - in Verpflichtungen und Verboten untergehen und die öffentliche Meinung manipuliert wird. Und das sogar, wenn es um die eigenverantwortliche Entscheidung zur Gesundheitsvorsorge geht.

Aber auch bei mir selbst erlebe ich Phasen von Zuversicht und Nachdenklichkeit, Hoffen und Bangen, Verstehen und Verurteilen, Zugehörigkeit und Trennung.

 

So erfahre auch ich immer wieder, wie nah Licht und Finsternis einander mitten in der Schöpfung begegnen. Und Dir wird es in Deinen Lebenssituationen nicht anders ergehen. Manchmal ist es fast zum Verzweifeln.

 

Aber nicht nur für Jakob Böhme war es so, dass sich die lebendige Schöpferkraft genau in diesen Momenten des Erschreckens gezeigt hat. Als treibende Kraft hinter den beiden Polen ein und derselben Qualität. Als das Licht in der Finsternis, das Gute im Bösen.

Kann es sein, dass sich gerade deshalb immer wieder Menschen in Momenten tiefster Verzweiflung überraschenderweise neue Wege aufgetan haben? Dass sie erst durch die erschreckende Erfahrung der Polarität dieser Welt den Weg zur Weisheit und Liebe der Schöpferkraft gefunden haben?

Ich höre und lese jedenfalls ständig von solchen Biografien.

 

Sie lassen mich verstehen, was ein alter Baltischer Haussegen meint, der da lautet:

 

Wechselnde Pfade, Schatten und Licht:

Alles ist Gnade, fürchte Dich nicht.