Brief 128 - Dein Freund der Baum

Im letzten Brief ging es um die Symbolkraft des umgedrehten Baumes, der seine Wurzeln zum Himmel streckt. Um im Baum selbst eine Vielzahl von Symbolen zu erkennen, braucht man ihn freilich nicht erst auf den Kopf stellen.

Allen voran den Baum des Lebens, der in fast allen alten Kulturen mit wechselnder Symbolik Erwähnung findet. Erstaunlich dabei, dass schon die Maya in ihm eine Verbindung von Himmel und Erde, aber auch der Unterwelt sahen.

 

Ein Baum steht genauso als Symbol für Stabilität, Stärke und Wachstum als auch für Ruhe, Frieden und Gelassenheit. Du kannst in ihm die Zyklen von Expansion und Rückzug erkennen, von scheinbarem Tod und Wiedergeburt. Und zahlreiche Bäume stehen mit ihrem knorrigen und vom Wetter gezeichneten Erscheinungsbild förmlich für die Aspekte Individualität, Einzigartigkeit und Überlebenswille.

Dem Förster und Autor Peter Wohlleben verdanken wir Einblicke in das geheime Leben der Bäume, die uns über ihre Symbolik hinaus als Leitfaden dienen können. Besonders beeindruckt hat mich, dass Bäume soziale Wesen sind, die sich um ihre Artgenossen kümmern. Weil es gemeinsam besser geht! Ein Baum ist kein Wald, kann kein ausgeglichenes Klima erzeugen und ist Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Also versorgen Bäume kranke oder schwache Artgenossen über ihr Wurzelwerk mit Nährstoffen, bis es ihnen wieder besser geht. Jeder Baum gilt als wertvoll für die Gemeinschaft.

 

Ein weiteres, gerade in der heutigen Zeit besonders ermutigendes Symbol entdeckten wir Ende April während unserer wunderschönen Pilgertour auf dem Münchner Jakobsweg. Am Wegesrand fielen uns mehrfach Bäume auf, an deren Stämmen vor vielen Jahr(zehnt)en Stacheldrahtzäune zur Abgrenzung von Weideland gespannt wurde. Was passiert nun, wenn dieses Symbol für Abgrenzung und Trennung auf einen Baum trifft, der für Gemeinschaft und Integration steht? Da ein Baum nicht von der Mitte her nach außen dicker wird, sondern sich sein Zellwachstum in der äußeren Schicht, im sogenannten Kambium, vollzieht, verschlingt er langsam aber sicher den Stacheldraht!

Oft sah es dann so aus, als hätte jemand für den Zaun mit einem dünnen und langen Bohrer ein Loch durch den dicken Stamm getrieben. Aber das wäre schon rein technisch ein Ding der Unmöglichkeit.

 

Ob Stacheldrahtverschlinger oder Kraftquelle, Bindeglied zwischen Himmel und Erde oder Ersthelfer für Artgenossen: Was Du persönlich in einem Baum erkennst, wenn Du durch seine sichtbaren und vergänglichen Formen hindurchschaust ins Unsichtbare und Unsterbliche, ist Deiner individuellen Schöpferkraft überlassen.

Mit Sicherheit wirst Du einen Freund und etwas von Dir finden.

Und damit dem Bild des Menschen, der im Himmel wurzelt, ein gutes Stück näher kommen.