Brief 121 - Vom schwarzen Schaf zum bunten Vogel

Wir sind geschaffen nach dem Ebenbild des Schöpfers

Aber Menschen haben uns gelehrt, wie Hühner zu denken

Und noch denken wir, wir seien wirklich Hühner

Obwohl wir Adler sind

Breite Deine Schwingen aus und flieg!

Und sei niemals zufrieden mit den hingeworfenen Körnern

 

Woran mag es liegen, dass wir nach solch kraftvollen Worten wie diesen, mit denen der letzte Brief geendet hat, noch zögern, unsere Schwingen auszubreiten und uns hoch in die Lüfte zu erheben?

Vielleicht sind es die schrecklichen Nachrichten der vergangenen Wochen, die eine lähmende Wirkung auf uns alle haben und uns gerade mehr nach Friedenstauben als nach Adlern sehnen lassen.

 

Aber die Adler, von denen hier die Rede ist, breiten ihre Schwingen aus dem verinnerlichten Gedanken aus, nach dem Ebenbild des Schöpfers geschaffen zu sein! Ihre Botschaft ist Frieden, Liebe und Hoffnung. Ihre Flugroute folgt der Freiheit ihrer eigenen Entscheidung.

 

Nach meinem Dafürhalten liegt der Hauptgrund für unser Zögern, unsere Wirklichkeit als Adler anzunehmen und uns zu erheben, in einer tiefen Angst in uns. Auch für sie gibt es ein Bild aus der Tierwelt: Das schwarze Schaf.

 

Es ist die Angst vor der Rolle des Außenseiters. Wer von uns hat nicht schon die Erfahrung gemacht, wie schnell man in diese Rolle reinrutscht? Einmal nicht den anerkannten Vorstellungen oder Regeln einer Gruppe entsprochen, schon giltst Du als anders, unangenehm oder gar als „Schande bereitend“.

In dieser Gruppendynamik erfüllst Du als schwarzes Schaf schnell auch die Funktion des Sündenbocks, auf den unangenehme und ängstigende Themen projiziert werden. Nicht selten wird Dir dann die Schuld an Missständen in der Gruppe zugeschrieben. Zu dieser Dynamik gehört auch das oft berichtete Mobbing.

Viele von uns fanden sich bereits früh in dieser Rolle: Als schwarzes Schaf der Familie, der Spielgruppe, der Schulklasse... Kein Wunder, dass es sich bei unserer Angst vor der Rolle des Außenseiters um eine tief verwurzelte Angst handelt.

 

Seine Schwingen auszubreiten und sich zu erheben, bedarf also der Überwindung der Angst vor der Außenseiterrolle. Der Angst, nicht dazuzugehören, nicht richtig zu sein.

Sich zu erheben braucht den Mut, zu seinen Überzeugungen, seinem Blick auf die Dinge, seiner Buntheit zu stehen und die Intoleranz der anderen zu überwinden.

 

Der 1978 in Dornbirn geborene Geologe und Philosoph Ronny Boch schreibt zu dieser Intoleranz:

 

Intoleranz bedeutet, bunte Vögel schwarze Schafe nennen.

 

Kein Mensch ist ein schwarzes Schaf. Es ist eine Rolle, die ihm zugeschoben wird.

Dein Kleid ist kein schwarzer Pelz. Deine Rolle ist nicht die eines Huhns.

Dein Kleid ist ein buntes Gefieder. Deine Rolle ist die des Adlers, geschaffen nach dem Ebenbild des Schöpfers, der die Botschaft des Friedens, der Liebe und der Hoffnung in die Welt trägt.

Wie ein Huhn nach den hingeworfenen Körnern zu picken, ist nichts anderes als die Angst vor der Rolle des Außenseiters und die Furcht vor Deiner Wirklichkeit als Adler.

Sich daraus zu befreien und Dich hoch in die Lüfte zu erheben, bedeutet dazu stehen, ein bunter Vogel zu sein.

Hörst Du den Ruf der Freiheit?

 

Der in Brief 35 bereits einmal zitierte Satz der deutschen Schriftstellerin Hilde Domin (1909-2006) möge Dich bestärken, diesem Ruf zu folgen und Deine Schwingen auszubreiten:

 

Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug.