Brief 116 - Der Tod des Ego

Dem aufmerksamen Auge dürften in der letzten Zeile des Friedensgebetes von Franz von Assisi zwei in Klammern gesetzte, hinzugefügte Worte aufgefallen sein:

 

Und wer (sich selbst) stirbt, der erwacht zum ewigen Leben

 

Ich habe diese Schreibweise vor über zehn Jahren einem Buch des Meditationslehrers Eknath Easwaran entnommen und verwende Franziskus' Friedensgebet seither so. Und ich glaube, er wäre damit einverstanden. Denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er gewollt hätte, unser Erwachen käme erst mit dem Tod.

Womit ich nicht sagen möchte, dass es dann nicht käme. Davon bin ich sogar überzeugt. Aber ich finde, dass es dann reichlich spät wäre. Zumindest zu spät für dieses Dir geschenkte Leben.

 

Nun hört sich „Erwachen zum ewigen Leben“ ja erstmal als ziemlich hochgestecktes Ziel an. Gerade dann, wenn ich mich dazu auch noch (selbst) sterben soll.

Nach meinem Verständnis meint Franziskus damit das, was wir heute als Tod des Ego bezeichnen würden. So betrachtet geht es also darum, das falsche Selbstbild gegen das wahre Leben einzutauschen.

 

Das sah auch der 1931 geborene indische Philosoph Osho - dessen Popularität trotz Berichten über teilweise skandalöse Äußerungen und Praktiken in seiner Kommune auch nach seinem Tod im Jahre 1990 anhält - so:

 

Der Tod des Egos wird der Beginn Deines wahren Lebens sein.

 

Osho hatte auch auf die Frage, was das Ego sterben lassen würde, eine Antwort. Die Grundlage dieser Antwort bildet seine Ansicht, dass das Ego vom Wunsch gespeist wird, anders zu sein als es ist:

 

Verstehe den Prozess des Ego.

Wie lebt das Ego? Das Ego lebt aus der Spannung zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest. A möchte B sein - das Ego ist aus genau dieser Spannung gemacht.

Wie stirbt das Ego? Das Ego stirbt, wenn Du Dich annimmst, wie Du bist. Dass Du sagst: „Ich bin in Ordnung, so wie ich bin; es ist gut da, wo ich bin. Ich bleibe so, wie die Existenz mich will. Ihr Wille ist mein Wille.“

 

Wenn Du alle Gedanken über die Zukunft fallen gelassen hast - dass ich dieses und jenes werden sollte - löst sich das Ego auf. Das Ego lebt aus Vergangenheit und Zukunft. Verstehe das ein wenig.

Das Ego lebt aus der Vergangenheit: „Ich habe dies gemacht, ich habe jenes gemacht“ - Es ist alles vergangen.

Und das Ego sagt: „Das werde ich schaffen, ich werde dir ganz bestimmt zeigen, dass ich das schaffen kann.“ Das alles ist Zukunftsmusik.

In der Gegenwart existiert das Ego einfach nicht. Wenn Du in der Gegenwart lebst, verschwindet das Ego. Das ist der Tod des Ego. In die Gegenwart zu kommen, ist der Tod des Ego.

 

Ich möchte hierzu ergänzen, dass der Tod des Ego auch das Ende des Turbokapitalismus mit dem Glauben an grenzenlosen Konsum und immer weiteres Wachstum bedeuten würde. Weil Du das alles nicht mehr bräuchtest.

Und ebenso wäre er das Ende aller Kriege, Machtmissbräuche sowie der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur. Weil wir mit dem, was wir haben, einfach zufrieden wären.

 

Es gibt also genügend Gründe, zu unserem wahren Leben in der Gegenwart zu erwachen. Die Gelegenheit dazu ist immer Hier und Jetzt!