Brief 102 - Du bist schuld!

Was der heutige Titel wohl in Dir ausgelöst haben mag? Eine ungute Erinnerung, ein kurzzeitiges Gefühl der Lähmung oder eines kalten Schauers, der Dir über den Rücken läuft… Jedenfalls nichts Gutes!

 

Wenn wir uns in die Enge getrieben oder belastet fühlen, scheint die Suche nach einem Schuldigen ein probates Mittel zu sein. Es sorgt tatsächlich für eine gewisse Entlastung. Allein dadurch, dass ich meine gefühlte Belastung jemand anderem zur Last legen kann.

Schuldzuweisung ist gelernt. Wer hat nicht bereits als Kind „Du bis schuld“ oder „selber schuld“ gehört oder selbst gerufen? Wir haben alle sowohl darunter gelitten als auch davon profitiert.

 

Schuldzuweisung entlastet uns nicht nur, sie entbindet uns gleichzeitig von der Auseinandersetzung mit den Beweggründen unseres Gegenübers oder unserer eigenen Fehlbarkeit. Schuld ist eine Sackgasse, in der es kein Weiterkommen gibt!

 

Vom großen griechischen Philosophen Epiktet (um 50-138 n. Chr.) ist in dem von seinem Schüler Arrian verfassten Handbüchlein der Moral (Encheiridion) mit Auszügen aus den Lehrgesprächen des großen Meisters zu lesen:

 

Anderen an seinem Unglück die Schuld geben, ist ein Zeichen von Dummheit,

sich selbst die Schuld geben, ist der erste Schritt zur Einsicht;

weder anderen noch sich selbst die Schuld geben, ist ein Zeichen von Weisheit.

 

Ich habe im Laufe der vergangenen Wochen so viele Schuldzuweisungen gehört und gelesen wie nie zuvor. Keine davon mir gegenüber. Aber im Radio und in der Presse werden gerade Ungeimpfte, aber auch Politiker massiv beschuldigt. Gegenargumente bleiben außen vor. Jeder sieht nur seine Wahrheit. Das bereitet nicht nur mir Sorge vor einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft.

 

Darum mein dringender Appell für mehr Miteinander statt Spaltung! Die Schlüssel dazu sind Respekt vor der Entscheidung des anderen und eigenverantwortliches Verhalten im Alltag. Denn ob geimpft oder nicht: Jeder kann das Virus übertragen. Möge daher jede*r nach bestem Wissen und Gewissen dafür sorgen, dass sich niemand durch sein/ihr Verhalten verunsichert oder gar gefährdet fühlt. Zusätzlich gehört für mich zu dieser Eigenverantwortung auch die persönliche Gesundheitsprophylaxe, wozu ich neben einer ausgewogenen Ernährung, Bewegung und Aufenthalt in der Natur auch alles zähle, was der seelischen Gesundheit dient.

Das ist alleweil besser als Schuldige für unsere Situation zu suchen.

 

Der 1949 geborene Aphoristiker Horst A. Bruder schreibt in seinem Buch „TriebFeder“ zum Thema Schuld:

 

Schuld gibt es nur in verschiedenen Stufen der Unschuld.

 

Und der 1989 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Dalai Lama vermerkt, dass die tibetische Sprache gar keinen Begriff für „Schuld“ kennt!

 

Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir den Begriff auch aus unserem Wortschatz streichen. Für den Frieden in uns und in der Welt.